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Balint outdoors

Christa Weßel (2018) Spuren1

 

Gemeint ist damit: außerhalb der eigenen Klinik. Balint-Arbeit ist eine Form der Supervision und Selbsterfahrung. In den 1990ern habe ich mehrere Jahre in einem großen Klinikum, dem Universitätsklinikum Rudolf Virchow(*), Berlin, an einer multidisziplinären Balint-Gruppe teilgenommen. Warum war das "outdoors"? 


Ärzte(**), Pflegende, Sozialarbeiter, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Psychologen, Seelsorger und bestimmt noch andere Berufsgruppen - es ist so lange her, dass ich mich nicht genau erinnere. Woran ich mich sehr genau erinnere, ist die hohe Kompetenz des Balintgruppen-Leiters: Dr Wolfgang Schulz-Zehden. Alle zwei Wochen nachmittags ab 16 Uhr trafen wir uns und arbeiteten eineinhalb Stunden zusammen.  Erst nach einer ganzen Weile - ich glaube nach dem ersten Retreat - habe ich mitbekommen, wer da unsere Gruppe leitet.

Die Leichtigkeit, Souveränität und Empathie, sprich die hohe Professionalität von Wolfgang Schultz-Zehden habe ich einfach als selbstverständlich genommen. Ich dachte, um Balintgruppenleiter zu werden, muss mensch einfach so gut sein. Nun, später habe ich andere Beispiele erlebt.

Wolfgang Schultz-Zehden war ein in der Balint-Arbeit und in der psychosomatischen Medizin ausgebildeter und erfahrener Augenarzt und Psychoanalytiker(***). Pro Treffen bearbeitete die Gruppe in der Regel einen Fall, den eines der Mitglieder vorstellte. Zu Beginn fragt der Leiter, ob derjenige, der beim Treffen zuvor den Fall vorgetragen hatte, noch etwas sagen möchte. Dafür waren maximal 15 Minuten vorgesehen. Dann kommt der aktuelle Fall. Die Gruppe schweigt. Nach ein bis zwei Minuten meldet sich jemand. Er trägt vor. Die anderen hören zu. Dann hört er zu, während die anderen sich dazu austauschen. Im weiteren Verlauf können sie auch Fragen an denjenigen stellen, der den Fall vorgestellt hat. Ein absolutes NO ist, dem anderen zu sagen, was er wie machen sollte. Darauf zu achten ist eine der zahlreichen Aufgaben des Balintgruppenleiters. Schließlich gibt es eine Abschlussreflexion, in der vor allem derjenige spricht, der den Fall vorgestellt hat.

Was relativ selten, aber auch zur Sprache kam, waren Belastungen in der Zusammenarbeit mit anderen. Ein Kollege meinte einmal: "Das ist es! Nicht Patienten, manchmal Angehörige, immer mal wieder Pflege. Vor allem und häufig sind es Kollegen und Oberärzte und Chefs, die einen runterputzen, unfair behandeln und annölen. Das tut weh! Und ich habe mich oft tagelang damit beschäftigt."

Unsere Gruppe konnte solche Themen hervorragend bearbeiten,

  • weil wir aus verschiedenen Berufsgruppen und Hierarchiestufen kamen,
  • weil wir uns absolut sicher waren, dass alle die Schweigepflicht wahren - "nichts, was hier gesprochen wird, verlässt diesen Raum", nun nach dreißig Jahren habe ich nun doch einen Satz hier aufgenommen, der damals gefallen ist,
  • weil das Klinikum so groß war, dass nicht zwei der Mitglieder oder mehrere unmittelbar zusammen arbeiteten,
  • und weil Wolfgang Schultz-Zehden so ein kompetenter Balintgruppenleiter war.

Darum kann ich mich nicht so recht mit dem Gedanken anfreunden, in dem Haus, in dem ich derzeit arbeite, Balintarbeit zu machen. Es ist zu klein, es ist nur eine Berufsgruppe, es ist ...  

Für die Facharztausbildung brauche ich in der Selbsterfahrung 70 h (35 Doppel)stunden Balintgruppenarbeit oder interaktionsbezogene Fallarbeit (Blog vom 25 August 2024 Facharzt werden). Schaue ich also, welche anderen Möglichkeiten ich finde. Es gibt regelmäßige Status- und Ausblickgespräche mit dem jeweiligen Chef im Verlauf der Weiterbildung. Einer von ihnen, oder mehrere haben bestimmt Ideen dazu.

Christa Weßel - Samstag, 14 Dezember 2024


(*) Das Universitätsklinikum Rudolf Virchow wurde im Verlauf der 1990er Jahre Teil der Charité - https://www.charite.de/die_charite/campi/campus_virchow_klinikum/historie_des_charite_campus_virchow_klinikum/
(**) wieder sind unabhängig von der verwendeten Form alle Geschlechter gemeint: w, m, d.
(***) Schultz-Zehden W. Das Auge – Spiegel der Seele: Neue Wege zur Ganzheitstherapie. München, Artemis und Winkler 1992.