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Im Feld

30.06.2024, neu:  Abschnitt "Prioritäten setzen".

 

ChristaWeßel (2024) Im Feld

Vor einigen Tagen war Ärzte-Lunch im Krankenhaus. Schick. Zeit miteinander zu reden, sich auszutauschen und lecker in Ruhe zu essen. Eine schöne Idee. Das Hauptthema im großen Forum war die Organisation der Dienste und auf dem Rückweg zur Station über das Gelände fragten mich zwei junge Kolleginnen(*), ob ich Tipps für die Dienste hätte. Ich habe erzählt, wie ich es mache. Ob ich das mal aufschreiben könne? Gerne.

 

Warum Dienste schön sind

Es gibt vier Gründe und sicher noch einige mehr, warum ich gerne Dienste mache. Auch wenn sie anstrengend sind und ich danach zuhause sehr bald mein Sofa ansteuere.

Es ist ein wunderschönes Gelände. Ein großes Areal, auf dem die Häuser mit den Stationen, die Funktions- und Verwaltungsgebäude, ein Bauernhof, eine Gärtnerei und Wohnheime großzügig verteilt sind. Die Anpflanzungen und die Architektur aus mehr als 170 Jahren sind für mich immer wieder ein Genuss. Auf diesem Gelände bin ich im Dienst mit dem Fahrrad unterwegs. Im Sommer lange bei Helligkeit, im Dunkeln ist es gut beleuchtet.

Ich lerne nach und nach die ganze Klinik kennen, es sind auf diesem Gelände immerhin 31 Stationen und ungefähr sechshundert stationäre Patienten, für die ich als AvD-2 zuständig bin. AvD-1 macht die Aufnahmen und noch Einiges anderes. AvD: Arzt vom Dienst.

Pflegepersonal, AvD-1 und der Hintergrund, also die Oberärztin, die als Facharzt zuständig ist und zumeist von Zuhause aus arbeiten kann, sind extrem hilfreich.

Natürlich gibt es dramatische und manchmal sogar gefährliche Ereignisse; zumeist ist die Arbeit jedoch  von berührenden Geschichten geprägt. Die Geschichten unserer Patienten. Ihr Leben. Und hin und wieder entbehrt es auch nicht der Komik.

 

Warum es "im Feld" ist

So heißt dieser Blogeintrag nicht, weil es ein kleines Dorf ist, in den wir uns bewegen, sondern weil es in der Soziologie, der Völkerkunde und vielen anderen empirischen, also unter anderem beobachtenden Wissenschaften und auch in der Medizin "Feld-Notizen" gibt. Soziologen sprechen von "Feld", wenn sie von Gruppen und Menschen und ihrer natürlichen Umgebung sprechen. Zu Feldnotizen zählen Notizen, die Sie während einer Beobachtung oder eines Interviews und unmittelbar danach machen. Für meine Notizen im Dienst verwende ich die Methode der Feldnotizen, da ich sie als strukturiert, übersichtlich, praktisch und schnelle Methode schätze (mehr dazu in Entdecken).

 

Clipboard und Pocket

In der einen Tasche der Hose Psychiatrie Pocket, in der anderen das Telefon, einen gelben Textmarker und einen Kugelschreiber. Vorn in den Taschen links der Fahrradschlüssel, rechts das große Schlüsselbund. In der Hand oder auf dem Schreibtisch oder auf dem Fahrradgepäckträger das Schreibbrett.

 

Die Notizen

oben rechts: Datum und Blattnummer
dann:
Uhrzeit - Station - Patientenname - Pflegeperson-Name & Tel-Nr
              _______  - akuter Anlass
                           - Erkrankung
                           - Maßnahme

Der lange Strich ist für zwei Haken
o ein Haken: erledigt,
o zwei Haken: dokumentiert.

Auf dem freien Platz unter den Haken steht meist die Uhrzeit, zu der ich es dann tun konnte. Vieles lässt sich unmittelbar am Telefon klären. Oft kann ich bald zum Patienten fahren oder gehen. Manchmal vergehen allerdings Stunden zwischen einem Anruf und der Möglichkeit einen Patienten aufzusuchen, weil es andere dringlichere Dinge gab.

Für die Übergabe nach dem Dienst gehe ich die Blätter durch und markiere übergebenswerte und -notwendige Dinge mit dem gelben Textmarker. Gestern war es auf sieben Blättern nur eine Stelle. Manchmal ist auf jedem Blatt etwas.

 

Fragen, fragen, fragen

In der Psychiatrie bin ich neu. Wie in den anderen Gebieten der Medizin und auch anderswo treffe ich auch hier auf Menschen mit Wissen, Hilfsbereitschaft, Ausdauer und Humor. Die Dienste sind auch und vor allem schön, weil ich weiß, dass es in diesem Krankenhaus hilfreiche Menschen gibt. Also gilt: fragen, fragen, fragen.

Das Pflegepersonal: Was verträgt die Patientin gut? Was braucht er von mir, von uns? Was empfiehlst du, die Pflegeperson? Pflege ist erfahren!

Den anderen Arzt im Dienst: Sie sind hilfsbereit, auch wenn sie selbst viel zu tun haben. Sie erinnern sich, dass sie auch mal Neulinge waren. Gestern habe ich einige Male sogar einfach zur Pflege sagen können: da fehlt mir die Erfahrung, bitte rufe XX an, sie kann es. Und die Kollegin hat ohne weiteres geholfen. Als ich am nächsten Morgen danke sagte, meinte sie: das ist doch selbstverständlich. - Wow.

Den Hintergrund. Das ist die Oberärztin oder der Oberarzt, die als Facharzt zuständig sind. Sie arbeiten zumeist von Zuhause und haben Zugriff zum KIS (Krankenhausinformationssystem) und somit auf die Patientenakten. Die Anrufe sind Muss, Soll oder Kann.

  • Kann - je nach eigener klinischer Erfahrung in der somatischen Medizin: Vorstellung in der oder Verlegung in die Innere Medizin oder Chirurgie oder Urologie oder Gynäkologie oder ...
  • Soll bis Muss: Unsicherheiten in der Medikation. Hier kann meist bereits die erfahrenere Kollegin vor Ort helfen.
  • Muss - ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
    • Entlassung gegen ärztlichen Rat
    • Unterbringung nach PsychKG
    • Freiheitsentziehende Maßnahmen, wie bspw. Fixierungen
    • Suizid, Suizidversuch
    • Todesfall allgemein
    • Übergriffe
    • Entweichungen, Vermisst
    • und noch einige mehr

Prioritäten setzen

Die Aufgaben im Verlauf des Dienstes sind vielfältig. Im "langen" Dienst von 14:00 bis 08:15 ist die Zeit zwischen 16 und 20 Uhr meinen bisherigen Eindrücken zufolge "rush hour". Und es bleibt ein dichtes Geschehen bis in die Stunde nach Mitternacht. Danach kann es etwas ruhiger werden. Es können mehrere Dinge fast oder auch tatsächlich gleichzeitig passieren, beispielsweise bin ich gerade bei einem Patienten oder führe die Dokumentation und Medikation am Computer durch und es treffen ein und auch mehrere Anrufe wegen anderer Patienten ein. Also ist es wichtig, das Wichtige und Dringende vom Aufschiebbaren unterscheiden zu können.

Notalarm

... natürlich: sofort los.

 

Wenn ein Patient

... verlegt werden muss in die Somatik: hingehen, sofort.
... gegen ärztlichen Rat entlassen werden will: hingehen, asap = as soon as possible. Es geht darum einzuschätzen, wie krank der Patient ist. Und es geht auch darum, ob sie oder er eigen- oder fremdgefährdend ist, also vielleicht gegen seinen Willen bleiben muss.

 

Wenn ich selbst wegen anderer Patienten diese beiden Dinge nicht tun kann

... den anderen Arzt vom Dienst anrufen, und bitten dies zu tun.

 

Wenn der andere AvD auch mit anderen Patienten beschäftigt ist

... den HvD anrufen und bitten, rein zu kommen.

Letzteres ist - so meine Kollegin gestern morgen - extrem selten. In der Regel kommen wir beide vor Ort klar. Ein gutes Gefühl.

 

auf sich selbst achten

Sechs, zwölf oder achtzehn Stunden, dies sind die drei Dienstdauern, die es derzeit gibt. Auch wenn immer etwas zu tun sein sollte, wichtig ist, genügend Wasser zu trinken, gesunde Dinge zu essen und zwischendurch "einfach mal die Beine hoch und allein ganz still". Zehn Minuten wirken Wunder. Jedenfalls bei mir.

Und dann kommt nach der Übergabe morgens (dann waren es achtzehn oder zwölf Stunden, mit Glück mit einigen Stunden Schlaf am Stück) nach der Radtour nach Hause mein Lieblingstrio: Dusche, Frühstück, Sofa. Und was machen Sie nach Ihrem Dienst?

Christa Weßel - Samstag, 15 Juni 2024

(*) wieder sind unabhängig von der verwendeten Form alle Geschlechter gemeint: w, m, d.

 

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