· 

Den Patienten ganz sehen

Christa Weßel (2016) Spuren


Natürlich auch die Patientin und alle anderen Geschlechter. Gestern wurde im Ärzteverein Oldenburg durch einen hervorragenden Vortrag und in den Gesprächen deutlich, worauf sich dieses zum Beispiel beziehen kann: auf den Körper und die Bezahlung der Leistungen, die für Diagnostik, Behandlung, Pflege und Rehabilitation erforderlich sind.

Der Vortrag

Prof. Dr. Max Ettinger. Moderne regenerative und rekonstruktive Verfahren in der Orthopädie (regenerative Knorpeltherapie, Robotik, 3D Druck). Vortrag im Ärzteverein Oldenburg-Stadt in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Gesellschaft Oldenburg am 06 Dezember 2023.

 

Körper

Der Bezug "auf den Körper" umfasst stets auch Geist und Seele und die sozialen Gegebenheiten eines Menschen. Dazu zählen Alter, Arbeits- und private Welt, Vorgeschichte. Gestern Abend ging es um Orthopädie.

Professor Dr. Max Ettinger stellte drei Schwerpunkte der Arbeit seines Teams am Pius-Hospital in Oldenburg(*) vor: Knorpel-Wiederherstellung bei umschriebenen Defekten, das Robotor-gesteuerte Einsetzen von Gelenkprothesen und den 3D-Druck in der Knochen-Chirurgie. Bereits hier sei angemerkt: Knochen- und Gelenkchirurgie ist immer auch Weichteil- und vor allem Gefäß- und Nervenchirurgie. Sie müssen sich einen Weg bahnen, um an einen Knochen heran zu kommen. Besonders deutlich wird dies an Schulter und Leiste: dort verlaufen die reinsten Nerven- und Gefäß-"Autobahnen".

Einen Satz wiederholte Max Ettinger immer wieder: die Planung ist das A und O und wir müssen die weiteren Erkrankungen und Gegebenheiten des Patienten berücksichtigen. Beispielsweise müssen Sie bei einem Knorpeldefekt auch Schwächen in den Bändern am Gelenk beheben. Dann wurde es noch spannender.

 

Roboter

Am Beispiel von Knieprothesen zeigte Professor Ettinger, wie wichtig es ist, das Bein eines Menschen nicht auf die Ideallinie zu korrigieren, sondern das X- oder O-Bein in die Berechnungen der Winkel und Achsen einzubeziehen. Das liegt nahe: die Kapsel und die Bänder eines O-Bein-Knies sind anders, als die eines "geraden" Knies. Wenn Sie das Knie begradigen, müssen sich die Innenseiten sehr stark dehnen und die Außenseiten sind zu locker. Solch ein Patient wird vielleicht nach einer Operation sagen: irgendwie passt das nicht. Oder sogar: es tut weh.

Das war bislang so. Es handelt sich oftmals nur um ein paar Grad (von 180). Kann ein Mensch Knochen so akkurat sägen und eine Prothese im richtigen Winkel einbauen? Kollege Roboter kann es besser. Denn es handelt sich um drei Achsen: von vorne gesehen, von der Seite und im Querschnitt. Passen die Standard-Prothesen? Eher nicht, vielleicht mit kleinen Anpassungen.

Daraus entstehen zwei Fragen: (a) wie lassen sich Standard-Prothesen anpassen? und (b) zahlt der Versicherer? Lassen Sie uns zunächst in der Medizin bleiben.

 

3D-Druck

Ein Beispiel für die Anpassung einer Prothese ist, mittels 3D-Druck auf der Außenseite noch etwas hinzuzufügen. Es geht noch mehr: ganze Prothesen zu drucken und auch Knochenanteile oder ganze Knochen, beispielsweise, wenn Sie einen Teil eines Knochens oder den ganzen Knochen entfernen müssen, weil er von Knochenkrebs oder einer Metastase befallen ist. Professor Ettinger hat faszinierende Beispiele gezeigt aus den Bereichen Becken, Hüfte, Schienbeinkopf, Ellbogen und Schulterblatt. Ein ganzes Schulterblatt? Ja, das geht.  Erleichternd sei, dass es ja die andere gesunde Seite gebe: sie dient als gespiegeltes Modell für den Druck. Eine große Herausforderung ist das Material. Kunststoff ist ohne weiteres möglich. Schwierig ist Metalldruck. Das braucht große Hitze. Und eine besondere Herausforderung ist, die Knochenstruktur nachzubauen. Knochen ist abgesehen von den glatten Knorpeloberflächen porös. Dadurch können hier Sehnen, Bänder und Gelenkkapseln ansetzen und einwachsen.

 

Sozio-Technik

Die Entwicklung von Material, Prothesen und Instrumenten bis hin zum Roboter und ihr Einsatz in der Medizin ist Sozio-Technik. Ärzte, Ingenieure und Informatiker und einige andere Fachgebiete und Berufe arbeiten zusammen. Professor Ettinger erläuterte dies am Beispiel des Ersatzes eines Beckenknochenanteils wegen eines Knochenkrebses. Der Ingenieur entwickelt ein stabiles Teil. Der Arzt must bedenken, wie er Zugang zum Knochen bekommt. Denken Sie an die "Autobahnen" der Nerven und Gefäße in der Leiste. Da müssen die Operateure "vorbei". Also geht es hin und her, bis die Prothese - auch ein Knochenteilersatz ist eine Prothese - passt und einsetzbar ist.

So etwas dauert Wochen. Und es kostet Geld.

 

Bezahlung

Solche Behandlungen jenseits des Standardprogramms sind natürlich teuer. Zweifach, dreifach, vierfach oder sogar: bislang noch gar nicht da gewesen.

Wie wird eine Krankenversicherung reagieren? Die Menschen, die dort über Vergütungen eines "Falles" entscheiden? Richtig: eher ablehnend. Hier kommt wieder "den Patienten ganz sehen" zum Zuge.

Wenn wir den ganzen Verlauf betrachten und sehen, dass ein Mensch vielleicht im Krankenhaus durch eine aufwändige Behandlung mehr "kostet", daraus aber weniger Schmerzen und Beeinträchtigungen, eine kürzere Rehabilitation und eine frühere Wiederaufnahme seiner Arbeit folgen, ist dies deutlich preiswerter. Warum ich hier den Wiedereintritt in die Arbeitswelt nenne? Bis zu diesem Punkt und darüber hinaus sind vor allem Krankenversicherungen für die Zahlung zuständig.

Um mit Krankenversicherungen und anderen Kostenträgern in solche Überlegungen einzusteigen und mit ihnen zu verhandeln, sind Zahlen erforderlich. Wir müssen die Kosten von Behandlung (inklusive Planung), Komplikationen und Rehabilitation bis zum Wiedereintritt in die Arbeitswelt kennen. Dazu gibt es einige Möglichkeiten, die seit Jahrzehnten im medizinischen Controlling etabliert sind (*).

 

Zusammen

Es braucht also ein Zusammenwirken von Menschen aus der Medizin, der Technik, der Informatik und der Ökonomie. Mit Medizin ist "alles" gemeint: Diagnostik, Therapie, Pflege, Reha. Und es ist damit gemeint, über die Fächergrenzen hinaus gemeinsam Ideen zu entwickeln. Was für den Orthopäden an den großen Gelenken und Knochen interessant ist, ist für den Mund-Kiefer-und Gesichtschirurgen ebenso von Belang. Eine Sozioinformatikerin kann Ideen zu Robotern und 3D-Druckern in anderen Gebieten beisteuern. (Auch Raumfahrt macht 3D.) Eine Gesundheitswissenschaftlerin kennt Wege zur Kalkulation von Diagnostik, Therapie, Pflege, Reha bis hin zu Maßnahmen der Wiedereingliederung. Und Fachmenschen aus dem Krankenhausmanagement und bei Versicherungen wissen um die ganz alltägliche Umsetzung der Vergütung.

Der Abend gestern im Ärzteverein Oldenburg war ein schönes Beispiel, wie Menschen miteinander ins Gespräch kommen und Ideen entwickeln.

Christa Weßel - Donnerstag, 07 Dezember 2023

 

(*) außerdem

Orthopädie

Kalkulation und Zusammenarbeit

  • Weßel C. Beraten:  Philosophien, Konzepte und das Projekt. Auflage 2. Weidenbornverlag 2023. - ebook [die leitende Geschichte in diesem Buch sind die "Pfadfinder" und ihr Pojekt zur Kalkulation von Patientenpfaden]
  • Weßel C. Behandlungspfade als Qualitätsmanagement-Instrumente. Dissertationsschrift zur Dr. med. Basel (CH): Universität Basel, 1999. - PDF