Die Zusammenarbeit mit einem Kollegen und in einem anderen Fall mit einem Klienten führte wieder einmal zum Bild des Spiegels und des Fensters. Dieses Bild taucht in einer breit angelegten Studie über erfolgreiche Unternehmen und ihre Top-Manager von Jim Collins auf (2001). Zu den Eigenschaften guter Führungskräfte gehören Demut und Entschlossenheit (vgl. auch Senge 2006).
Demut und Entschlossenheit
Collins bezeichnet Führungskräfte mit solchen Haltungen und Fähigkeiten als Level 5 Leadership. Demut verdeutlicht er mit der Metapher des Spiegels und des Fensters. Level 5 Leader suchen die Ursache für Misserfolge oder Fehler bei sich selbst, im Spiegel. Wenn ihr Unternehmen Erfolg hat, sehen sie die Gründe bei ihren Mitarbeitern oder glücklichen Umständen in Markt, in politischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen oder in rechtlichen Änderungen. Sie schauen aus dem Fenster.
Heute möchte ich dieses Bild erweitern, nicht um eine weitere Glasfläche, sondern indem ich es umdrehe. Anmerkung: zur Erhöhung des Lesekomforts nutze ich vor allem die männliche Form als neutrale Form. Nur "die Coach" hat eine weibliche Form, wenn ich von meiner eigenen Arbeit berichte.
Das Bild umdrehen
In der Zusammenarbeit zeugt es von hoher Kompetenz, zunächst einmal Unzulänglichkeiten und Fehler bei sich selbst zu suchen, wenn etwas nicht gut läuft, und sich außerdem der Verdienste anderer und auch glücklicher Umstände bewusst zu werden, wenn etwas gut läuft. Doch manchmal ist es auch anders herum. Bruno-Paul de Roeck bietet in seinem wunderbaren Buch "Gras unter meinen Füßen" (1982/2013) einen Zugang, wann Sie wie schauen können oder auch sollten. Im Kontakt mit anderen - in Gestalt geht es um das "Leben an der Grenze" (Laura Perls, 2005) - können sich sechs Ausprägungen zeigen. Introjektion, Konfluenz, Projektion, Reflexion, Deflektion und Egotismus. (Anmerkung: de Roeck geht auf die ersten vier ein, Antje Abram in "Gestalttherapie", 2013, auch auf die letzten zwei.) In diesem Blogeintrag gehe ich auf die Projektion ein, weil sie "Spiegel und Fenster" berührt. Die anderen Ausprägungen möchte ich in einem weiteren Eintrag betrachten.
Projektion
funktioniert im Negativen _und_ im Positiven. Projektion ist ein Mechanismus, mit dem Menschen eigene Eigenschaften auf jemand anderen projizieren, sprich beim anderem und nicht bei sich selbst feststellen.
proicio (Verb, lateinisch)
1. vorwerfen, vor die Füße werfen; ...; 9. verweisen, hinhalten
[https://de.pons.com/übersetzung/latein-deutsch/proicio - 18 Sep 2022]
Vor allem bekannt ist wohl die negative Variante, in der Menschen nicht gut über andere denken, fühlen und sich äußern und diese für negative Verläufe verantwortlich machen. Die Übertragung ist eine besondere Form der Projektion. In ihr sind Wünsche enthalten, die ein Mensch in einer Beziehung zu einem anderen Menschen entwickeln kann. Anmerkung: in "Beziehung" treten Menschen spätestens miteinander, wenn sie einander gegenüberstehen. Sie können auch schon früher miteinander in Beziehung treten: mittels analoger (Erzählungen, Zeitungen, Bücher, Briefe) und digitaler Austauschwege.
Wenn Menschen erkennen, dass sie projizieren, fällt vielleicht folgender Satz
"The trouble I have with him is me."
(Edward Hall, Beyond Culture, 1976/1989, p 240)
Es gibt auch die von vornherein positive Variante der Projektion. Bruno-Paul de Roeck fordert zu einem Experiment auf:
Was du vom anderen sagst, bist du selbst (Projektion)
[...]
Ein Experiment
Nimm ein Blatt Papier und schreibe darauf den Namen eines Menschen, den du sehr schätzt. Darunter etwa zehn Stichworte (keine Sätze), die seine oder ihre guten Eigenschaften wiedergeben. Fertig? Streiche nun den Namen der Person. Statt dessen schreibt du deinen eigenen Namen hin und versuchst nachzuempfinden, daß du so bist und daß die zehn Wörter eine Beschreibung deiner wertvollen Eigenschaften sind. [...]
Wenn du lernst, darauf zu achten, merkst du, daß du jedesmal, wenn du über andere Menschen sprichst, gleichzeitig etwas über dich selbst aussagst.
(Bruno-Paul de Roeck, Gras unter meinen Füßen, 1985, S. 39)
Im Folgenden geht um zwei Verläufe, die mit einer negativen Projektion beginnen.
Alles prima, aber ...
Wenn die Zusammenarbeit mit einem Kollegen nicht gut läuft, frage ich mich: Was könnte die Ursache sein? Was könnte durch mich verursacht sein? Ich finde immer etwas. Und dann ist da außerdem der andere. "Schau hin" ist eine zentrale Aufforderung in Gestalt. Also höre ich zu und schaue hin und lasse auf mich wirken. Beispielsweise, dass es nicht nur mit mir in der Zusammenarbeit knirscht, sondern der Kollege berichtet, dass es in seiner Zusammenarbeit mit anderen auch nicht gut läuft. Und stets liegt es an den anderen. Er führt eine negative Projektion durch. Besonders schwer fällt mir, dieses - wie de Roeck es nennt - "Opfer der Umstände" zu erkennen, wenn das "Opfer" mir strahlend und erfolgreich gegenüber sitzt.
Wie gut, dass es zum Handwerkszeug einer Coach und Organisationsentwicklerin gehören muss, Reflexionszeiten und -Rituale zu pflegen. In meinem Fall sind es nahezu tägliche Radtouren oder auch Spaziergänge. Da macht es dann beim "Löcher in die Luft gucken", wie ich es nenne, irgendwann "klick": bei diesem Menschen schaue ich aus dem Fenster, also auf ihn, wenn etwas nicht gut läuft ... nachdem ich in den Spiegel geschaut habe.
Die gute Nachricht ist: ich habe etwas gesehen ("Schau hin") und spreche es dann an. Wenn der Kollege beginnt, über seine Haltung zu reflektieren und diese vielleicht sogar ändert, läuft es gut. Was ist jedoch, wenn er nicht dazu bereit ist? Dann wähle ich den Weg des Abstandes und schaue, ob ich mit ihm zusammenarbeiten muss und - falls ja - wie wir dies durchführen können, ohne dass ich Schaden nehme. Denn das ist die schlechte Nachricht. Menschen, die "Opfer der Umstände" sind, können anderen durch ihre Haltung und ihr Tun Schaden zufügen. Es kann auch gut laufen mit der Reflexion. Dies erlebe ich mit Kolleg:innen und vor allem mit Klient:innen. Diese Menschen arbeiten mit einer Coach zusammen, weil sie reflektieren _wollen_.
Natürlich schätze ich Sie ...
... aber die Handlung dazu fehlt. Kennen Sie das? Im persönlichen Umgang spüren Sie die Wertschätzung des Kollegen oder Klienten. Leider hapert es jedoch in der Umsetzung, beispielsweise mit zugesagten Plänen, Berichten und anderen Dokumenten oder gar der Bezahlung. Was tun? Ansprechen, klar und deutlich. Im Coaching sind solche Vorkommnisse eine hervorragende Gelegenheit, Wertschätzung zum Thema zu machen. Wieder geht es um Projektion.
Dieses Mal um ein paar Ecken. Wenn ein Mensch einen anderen schätzt, dies im persönlichen Umgang ausdrückt, aber es an Handlungen mangelt, frage ich mich und dann diesen Menschen: Wie steht es um die Wertschätzung? Und im Verlauf entwickelt sich oftmals das Thema: Wie steht es um meine (Klient) Wertschätzung meiner selbst? Selbst-Wert-Gefühl. In dieser Projektion geht es erst um den Projizierenden selbst und dann um andere.
Wenn solche Gespräche beim Walk to Talk im Coaching an der frischen Lust stattfinden und auch noch mit Humor von Klient und Coach gewürzt sind, läuft es. Wir haben ein wichtiges Thema geöffnet, oder, wie Gestalt sagen würde, wir schauen auf eine offene Figur.
Warum ich so gerne Coach bin? Wenn ein Klient am Ende eines solchen Walk to Talk bei der gemeinsamen Reflexion zu diesem Gespräch sagt: Das war anstrengend. Das war gut. Ich bin froh, dass Sie mich damit konfrontiert haben.
Christa Weßel - Samstag, 17 Sep 2022
[18 Sep 2022: Abschnitt "Projektion" und in den Quellen Hall, Beyond Culture, hinzugefügt.]
Lesestoff
- Abram A. Gestalttherapie: Therapeutische Skills kompakt, Bd. 5. Paderborn, Junfermann 2013. ISBN-13: 978-3873879522 [Blog 21 Feb 2016]
- Collins J. Level 5 Leadership: The Triumph of Humility and Fierce Resolve. Harvard Business Review 2005 (July-August): 1-11. – https://hbr.org/2005/07/level-5-leadership-the-triumph-of-humility-and-fierce-resolve
- de Roeck BP. Gras unter meinen Füßen: Eine ungewöhnliche Einführung in die Gestalttherapie. Übersetzung: Raatschen H. 22. Auflage. rororo 1985. ISBN-13: 978-0061719615 [Blog 21 Feb 2016 and 24 Apr 2016]
- Hall ET. Beyond Culture. New York, Anchor Books 1976, ..., 1989. [Blog 19.01.2016]
- Perls L. Leben an der Grenze: Essays und Anmerkungen zur Gestalt-Therapie. Bearbeitung: Sreckovic M, Bearbeitung und Übersetzung: Fuhr R. 3. Auflage. EHP Edition Humanistische Psychologie 2005. ISBN-13: 978-3926176110 [Blog 07 Mar 2016, 13 Apr 2016, 24 Apr 2016, 05 Mar 2017]
- Senge PM. The Fifth Discipline. The art and practice of the learning organization. Revised edition. London, Doubleday 2006. – (1st edition 1990).
- Weßel C. Menschen: Lassen Sie uns zum Äußersten greifen ... reden wir miteinander. Weidenborn Verlag 2017. ISBN 978-3-947287-02-4
Blogeinträge Übersichten: 2016 ; 2017. Die erwähnten Blogeinträge enthalten zum Teil Besprechungen der Bücher.