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Arm und die Pandemie ... Was tun?!

Beginnen möchte ich mit einem Ausflug nach Minnesota, der mich aus der Gegenwart ins 19. und 20. Jahrhundert und wieder retour geführt hat. 

Mayo Art

art, engl.: Kunst (dict.cc: arts). Art, deutsch beispielweise für Verhaltensweise, Verfahrensweise und auch Eigenart, gutes Benehmen, Sorte, Einheit, in der Individuen zusammengefasst sind (Duden). Die Oxford Learner's Dictionaries beschreiben art als "the use of the imagination to express ideas or feelings, particularly in painting, drawing or sculpture".

 

Das möchte ich erweitern: ... to express values, rules, strategies and practice, ... um Werte, Regeln, Strategien und Vorgehensweisen auszudrücken. 

 

In diesem mehrfachen Sinn ist die Überschrift gemeint. Es geht um die Mayo Clinic. Dabei, es ist viel mehr als "eine Klinik". 

 

Wieder einmal habe ich ihre Websites besucht, weil ich etwas zur Pandemie lesen wollte, und dabei erneut über die Geschichte der Mayo Clinic gelesen. Erneut, weil ich seit fast vierzig Jahren ein "Fan" bin. Warum? Vielleicht können Sie es nachvollziehen, wenn ich ein wenig von der Geschichte erzähle, die beispielsweise auch in der englischen Wikipedia gut dargestellt ist. 

 

Eine Praxis, Nonnen und das Wichtigste

the patient comes first

 

... vom Patienten aus betrachtet, alle Fachrichtungen zusammen und für die Patientin

 

  • William Worrall Mayo, M.D., (1819–1911) gründet am 27 Jan 1864 seine Praxis "über dem Drug Store in der Dritten Straße" in Rochester mit "Antwort auf alle Besuche und Anrufe Tag und Nacht".
  • Beide Söhne studieren Medizin und treten in die Praxis ein: William James Mayo (1861–1939) und Charles Horace Mayo (1865–1939), Dr. Will und Dr. Charlie.
  • Am 21 Aug 1883 verursacht ein Tornado 37 Todesfälle und mehr als 200 Personen sind verletzt. Dr. Mayo organisiert die medizinische Versorgung. Er bitte die Nonnen von Saint Francis of Rochester um Unterstützung.
  • Am 30 Sep 1889 öffnet das Saint Marys Hospital. Die Äbtissin, Mother Alfred, hatte Dr. Mayo nach dem Tornado vorgeschlagen, dass die Nonnen das Geld beschaffen ("raise the fund") um das Krankenhaus zu bauen, wenn Dr. Mayo und seine Söhne die ärztlichen Aufgaben übernehmen würden. 
  • 1890er: weitere Ärzte treten in die Praxis und das Krankenhaus ein.
  • 1919 schriftliche Besiegelung als not-for-profit Organisation mit einer integrierten Patientenversorgung, medizinischer Ausbildung und medizinischer Forschung.
  • Die Ärzt:innen erhalten ein festes Honorar _un_abhängig von der Anzahl ihrer Patient:innen als Anregung, den einzelnen Menschen Zeit und Aufmerksamkeit zu geben. 
  • Die CEOs (chief executive officers, Geschäftsführer, Vorstandsvorsitzenden) müssen Ärzte sein und aus der Mayo Klinik kommen. Neue CEOs treten ungefähr alle sieben bis zehn Jahre ihre Position an.

Das meine ich mit "Mayo Art". Die Doctores Mayo haben von Beginn an gewusst, vertreten und umgesetzt, für welche Art der Patient:innen-Versorgung sie stehen und welche Bedeutung fachgebietsübergreifende Zusammenarbeit, Ausbildung und Forschung haben. Das ist bis heute so, gut hundertdreißig Jahre nach der Gründung der Klinik und fast hundertsechzig nach der Eröffnung der Praxis über dem Drugstore. mayoclinic.org ist viel mehr als eine Klinik. Schauen Sie einfach mal digital vorbei, zum Beispiel bei

 

https://www.mayoclinic.org/about-mayo-clinic/mission-values

 

Zahlreiche Bücher und andere Veröffentlichungen, auch online, erzählen die Geschichte(n). Helen Clapesattle hat sich 1941 auf die Doctores Mayo konzentriert. Auf 822 Seiten, frei im Netz erhältlich ... 

 

Zurück zum Anlass meines Besuches von mayoclinic.org, die Pandemie. 

 

Mayo Clinic Kommunikation zur Pandemie

Meine Fragen zur COVID-19-Pandemie bezogen sich auf die Impfung und die Risikogruppen. Mayo Clinic steht für Krankenversorgung, Forschung und Lehre auf höchstem Niveau, seit Jahrzehnten. Auch über Corona.

 

Darum möchte ich Ihnen die unten aufgeführten Seiten als Lektüre ans Herz legen und drücke hiermit meinen sehnlichsten Wunsch aus, dass es solche klare, umfassende, fundierte, aktuelle, gut verständliche Kommunikation auch auf Deutsch geben wird. Bald, irgendwo. Ich habe noch keine gefunden. Die deutschen Seiten wimmeln vor Bildern, Vereinfachungen oder erstrecken sich auf lange trockene Texte. 

 

Vielleicht eine Idee: die Mayo Clinic fragen, ob sie gestatten, die Texte zu COVID-19 zu übersetzen und mit Quellenangabe ins Netz zu stellen? Spanisch, Portugiesisch, Arabisch und Chinesisch gibt es bereits bei mayoclinic.org. 

 

Einen Aspekt der Pandemie möchte ich an dieser Stelle herausgreifen:

 

COVID-19 Risikogruppen

(übersetzt von [MC 2], in eckigen Klammern eigene Ergänzungen)

  • schwere Herzerkrankungen, wie Herzfehler, koronare Arterienerkrankungen [Herzkranzgefäße, bspw. Verengung oder Verschluss] oder Cardiomyopathie [Herzmuskelerkrankungen]
  • Krebs
  • Chronisch obstruktive Lungenerkrankungen (COPD) [dauerhafte Verengung der Atemwege, bspw. im Rahmen einer chronischen Bronchitis]
  • Typ 1 oder Typ Diabetes
  • Übergewicht, Fettsucht oder schwere Fettsucht /-leibigkeit
  • Bluthochdruck
  • Rauchen
  • Chronische Nierenerkrankungen
  • Sichelzellenanämie oder Thalassämie [beides: angeborene Erkrankungen der roten Blutkörperchen]
  • geschwächtes Immunsystem infolge einer Organ- oder Knochenmarkstransplantation
  • Schwangerschaft
  • Asthma
  • Chronisch Lungenerkrankungen wie zystische Fibrose oder pulmonale Hypertonie [Bluthochdruck im Lungenkreislauf]
  • Lebererkrankung
  • Demenz
  • Down Syndrom [Trisomie 21]
  • geschwächtes Immunsystem infolge einer Knochenmarkstransplantation, HIV oder einiger Medikamente
  • Erkrankungen des Gehirns oder Nervensystems, bspw. Schlaganfall
  • Erkrankungen in Folge von Missbrauch von "Substanzen" [Drogen, Medikamente, Alkohol]

[Und die Mayo Clinic fügt hinzu] Diese Liste in nicht komplett. Andere Erkrankungen könnten Ihr Risiko einer schweren Erkrankung durch COVID-19 erhöhen.

 

Natürlich geht dies auch kürzer und anders sortiert:

  • Übergewicht
  • Rauchen
  • Drogenmissbrauch (Drogen, Medikamente, Alkohol)
  • Herz-Kreislauferkrankungen
  • Lungenerkrankungen, wie chronische Bronchitis, Asthma
  • Diabetes I und II
  • Immunschwäche nach und durch Organ- und Knochenmarkstransplantationen, Medikamente und Infektionen, bspw. HIV
  • Krebs
  • Erkrankungen des Gehirns und des Nervensystems, bspw. Schlaganfall, Demenz
  • Erkrankungen der Leber, der Nieren und der roten Blutkörperchen wie Sichelzellenanämie

Merken Sie es? Bestimmt. 

 

Armut und COVID-19

Je älter Menschen werden, desto eher gehören sie mindestens einer Risikogruppe an und - wichtig - je ärmer Menschen sind, desto eher gehören sie mindestens einer Risikogruppe an. Weil sie sich gesunde Ernährung schlicht nicht leisten können und/oder darüber zu wenig wissen und in ihrem sozialem Umfeld der Konsum von Nikotin, Alkohol und Co häufiger ist als in anderen Bevölkerungsschichten. Dies ist schon lange bekannt (siehe bspw. Lampert & Kroll 2010) und bekommt jetzt in der Pandemie eine noch größere Bedeutung, denn

 

diese Menschen haben auch einen schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung,

 

einschließlich Prävention wie Masken und auch Impfungen. Ersteres, weil sie sich die Masken nicht leisten können (Paritätische 2020). Das zweite, weil sie nicht schlau werden aus der seit zwei Jahren oftmals chaotischen Vorwärts-Rückwärts-Kommunikation und -Maßnahmen, und weil diese Menschen nicht wissen, warum und wozu Impfungen für sie persönlich und ihr Umfeld - Familie - wichtig und nützlich sind. 

 

Die Mayo Clinic Kommunikation mag ja klasse sein und wäre es wohl auch auf Deutsch, aber wer liest das?

 

Was lesen die Menschen, die weiter noch mindestens ein Jahr (meine persönliche Annahme) AHA-L machen sollen und sich impfen lassen sollen? Lesen sie überhaupt? Wem hören sie zu? Was müssen wir, die lesen und wissen, tun? Was können wir tun?

 

Aufsuchende Gesundheitspflege

Ein alter Begriff aus der Versorgung ärmerer Bevölkerungskreise vor mehr als hundert Jahren. Da tauchen dann Stichworte wie Gemeindeschwester auf. Auf heutige Zeiten übertragen bedeutet dies: wir müssen hingehen und mit den Menschen sprechen, in ihrer Sprache.

 

Auch im Deutschen in ihrer Sprache. Vor einem halben Jahr konnte ich einen Menschen überzeugen, die zweite Impfung machen zu lassen, weil ich ihm sagte: "Ohne die zweite hättest du dir die erste sparen könnten, einmal ist keinmal. Dein Immunsystem braucht die zweite, um sich lange zu erinnern. Die erste war für's Kurzzeitgedächtnis." Dieses Bild, diese Metapher ist vielleicht medizinisch-biochemisch nicht ganz scharf, aber sie hat geholfen. Er wird sich auch boostern lassen. 

 

In der Sendung "Agenda" heute im Deutschlandfunk hat ein Sozialarbeiter dazu ungefähr gesagt: "Es muss zuverlässig sein. Mal da mal da funktioniert nicht, sondern Montag bis Freitag da und da. Da kannst du hingehen." Wichtig sind niedrigschwellige Taten: vor Ort in der dortigen Sprache einfach und klar. (nicht: "niedrigschwellige Angebote", Angebote reicht nicht.)

 

Der Mensch im Sommer hatte übrigens studiert, vor vielen Jahren. Er ist wohlhabend. Viele Arme haben auch studiert oder eine Berufsausbildung. Spannende Zahlen dazu gibt es im Bericht "Armut in der Pandemie. Der Paritätische Armutsbericht 2021". Übrigens: Arm ist fast jeder fünfte in Deutschland (17%). Ein Drittel der erwachsenen Armen arbeitet, ein Drittel ist in Rente / Pension und ein Drittel ist nicht erwerbstätig / erwerbslos. Von wegen "alles Hartz-IV" und "die wollen's ja nicht anders". Die Lektüre der beiden Armutsberichte 2020 und 2021 lohnt sich. Wichtig sind 

 

Politische Entscheidungen & Maßnahmen

Grundsätzlich auch jenseits der Pandemie:

 

Neubemessung der Regelsätze in Hartz IV sowie in der Grundsicherung für alte und erwerbsgeminderte Menschen

Arbeitslosenversicherung stärken

Alterssicherungssysteme stärken

Kindergrundsicherung einführen

(Paritätische 2020, S. 25-28)

 

Armutsfeste Überwindung von Hartz IV

Altersarmut beseitigen

Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stärken

Mietpreise in den Griff bekommen [eigene Formulierung, im  Bericht länger]

(Paritätische 2021, S. 23-25)

 

Beide Berichte nennen für die Entscheidungen Maßnahmen. Diese sind gut nachvollziehbar und, wie ich finde, leicht realisierbar, bspw. die Anhebung des Regelsatzes und Barauszahlungen für besondere Belastungen, wie Masken und Computer. An Gutscheinen verdienen nur die Anbieter. Und Schulen die Beschaffung aufzuhalsen, hat sich als nicht praktikabel gezeigt. (Anmerkung: es gibt auch einen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, aha, mehr dazu unten in den Quellen.)

 

Leider kommen Arme nur bei wenigen Politiker:innen und selten im Mediengeschehen vor. Das müssen wir ändern [siehe unten im Nachtrag vom 16 Jan zwei Beispiele]. Übrigens: achtzig Prozent der Erwerbstätigen hatten im ersten Jahr der Pandemie _keine_ Einkommensminderung. Es geht bei ihnen also "nur" um die Bewältigung der physischen Distanz, des Zuhause Arbeitens und (Be)schulens und - ein bisschen Slang an dieser Stelle - Bespaßens. Auch diese Menschen haben Ängste und psychosoziale Auswirkungen, jedoch haben sie bessere Möglichkeiten, sich Unterstützung zu holen, als Arme. 

 

 

Noch einmal eine Zeitreise, dieses Mal ins frühe 20. Jahrhundert, naja nicht ganz früh. Vor etwas mehr als hundert Jahren, 1918/1919, erkrankten wahrscheinlich ungefähr 500 Millionen Menschen an der "Spanischen Grippe" und ungefähr 50 Millionen, eventuell sogar 100 Millionen Menschen starben (blog Impfen gehen 13 Jul 2021). 

 

Es dauert dieses Mal länger und es geht uns hier in Deutschland besser. Es kann noch besser werden, auch und gerade für die Menschen, von denen hier die Rede ist.

 

Christa Weßel - Mittwoch, 12 Jan 2022

 

Nachtrag

Die Denkfabrik des Deutschlandfunks widmet sich diesem Thema. Heute Nachmittag gab es das Interview mit der Journalistin Anna Mayr. Sie sagte ungefähr: "ich bin kein typisches Beispiel" Sie ist unter Hartz-IV-Bedingungen aufgewachsen und schildert ruhig, nachvollziehbar und eindringlich die Lage der Menschen, die in solch prekären Verhältnissen leben, und was zu tun ist. Beispielsweise ein zweiter, staatlicher Arbeitsmarkt in und für unsere Zivilgesellschaft. Dort, wo Menschen gebraucht, aber bislang nicht bezahlt werden. Dann zahlen sie Sozialversicherungsbeiträge und sind in sinn-stiftender Arbeit. Wobei Anna Mayr hinzufügt, dass wir noch nicht in einer Gesellschaft leben, in der es anerkannt ist, sich nicht nur über Arbeit oder das nicht "besitzen" einer Arbeit zu definieren, sondern vielleicht auch einfach, über die Freude am Malen eines Bildes. Ich hoffe, auch dieser Beitrag ist bald nachzuhören auf denkfabrik.deutschlandradio.de

 

Dr. Gerhard Trabert setzt sich seit Jahrzehnten für arme Menschen ein. Er ist Arzt für Allgemeinmedizin/Notfallmedizin, Professor für Sozialmedizin/Sozialpsychiatrie, Buchautor und Gründer des Vereins Armut und Gesundheit. Trabert war der erste Arzt in der Bundesrepublik, der von der Kassenärztlichen Vereinigung eine Ermächtigung - speziell und ausschließlich als Wohnungslosenarzt - bekommen hat. Siehe zweiter Arbeitsmarkt: solche Arbeit _müssen_ wir honorieren, auch und gerade mit Geld. Trabert war und ist politisch aktiv. Durch seine Kandidatur für die Wahl des Bundespräsidenten will er unsere Aufmerksamkeit auf diese Menschen richten (tagesschau 10.01.2022). 

 

Christa Weßel - Sonntag, 16 Jan 2022

 

Quellen

die hier erwähnten

mayoclinic.org

weitere Quellen zur Pandemie

Blogrubriken together und Organisationsentwicklung (weil es um eine Organisation wie die Mayo Clinic und ihre Werte, Worte und Taten geht)

 

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