von Coaches und Therapeuten
Hin und wieder löst ein Blogeintrag einen Dialog mit Leserinnen und Lesern aus. Dieses Feedback inspiriert oftmals zu weiteren Reflexionen hier im Blog. So geschehen auch nach dem Eintrag vom 26.02.2017 "Von der Freiheit sich zu entscheiden - Reflexionen zu einem Philosophinnen-Buch". Eine Leserin: "Es ist so selten, dass Ärzte Coaches sind. Durch meine Arbeit kenne ich viele Coaches. Oft sind es Psychologen, aber auch sehr viele, die eine längere oder - nicht gut - nur sehr kurze Ausbildung als Coaches gemacht haben. Da sind Sie mit Ihrem Dreiklang aus Medizin, Psychologie und Philosophie doch ganz anders, nämlich sehr breit aufgestellt." Balsam auf meine Professionsseele. Meine Antwort:
Hochwertiges Coaching
"Ja, ich halte das auch für sehr wichtig, um ein hochwertiges Coaching durchzuführen. Häufig begegnen mir im Coaching - und auch in meiner Arbeit als Dozentin und Beraterin - Menschen, die in ihrer körperlichen oder seelischen Gesundheit beeinträchtigt sind. Entweder macht ihre Arbeit sie krank oder ihre Einschränkungen machen das Arbeiten schwer.
Es ist wichtig, dies als Coach zu erkennen und diese Menschen darauf hinzuweisen. Mit ihnen zu schauen, ob und wenn ja, welche medizinische (körperliche) oder
psychotherapeutische (Seele und Geist) Unterstützung erforderlich ist. Dazu muss ein Coach eine entsprechende Ausbildung haben.
Ich habe schon einige zum Arzt und / oder zum Psychotherapeuten geschickt. Da kommt die Ärztin und Chirurgin in mir durch: ich schicke auch mal jemanden zum Arzt
und warte nicht, bis sie oder er selbst darauf kommt."
Was ist Gestalt? Und die Ausbildung dazu?
Die Leserin fragte mich auch nach meiner Gestalt-Fortbildung und was Gestalt denn eigentlich sei, sie habe nur schemenhaft bisher davon etwas gehört. Ich habe ihr beschrieben, was für mich Gestalt ausmacht. Nachzulesen vor allem im Blog vom 09.12.2015 und in den anderen aus 2016, in denen das Wort Gestalt auftaucht. Ich habe auch erzählt, warum ich die dreijährige Ausbildung nach dem ersten Jahr beendet habe und mir eine einjährige Fortbildung in Gestalt genügt.
Anmerkung: Das Gestalt-Institut Frankfurt am Main (GIF) spricht mal von Fortbildung, mal von Ausbildung [3]. Mit Bezug auf die Definitionen der Begriffe Aus- und Fortbildung bei https://de.wikipedia.org/ und im Berufsbildungsgesetz (BBIG) [1] lässt es sich wie folgt beschreiben: Schließe ich den Kurs mit den Teilen A, B und C nach drei Jahren mit erfolgreicher Abschlussprüfung ab, habe ich eine Ausbildung in Gestalttherapie gemacht (siehe Curriculum [4]). Beende ich meine Teilnahme am Kurs nach dem ersten Jahr erfolgreich mit dem Abschlussworkshop (siehe Blog vom 12.10.2016) habe ich eine Fortbildung in Gestalt gemacht.
Jahr 1 - 2 - 3
Das erste Jahr ist vor allem der Selbsterfahrung gewidmet. Dies war sehr wichtig und sehr gut für mich. Im Sommer 2015 habe ich gespürt und erkannt (Fühlen und Denken - dazu gleich mehr), dass ich etwas tun muss, um besser mit meinen Coaching-Klienten in Kontakt zu kommen. Der erste Schritt ist, mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Darin war die Gestalt-Ausbildung Jahr 1 ein voller Erfolg.
Therapeutische Arbeit erfordert: Therapeuten ... gut ausgebildete
In den Jahren 2 und 3 geht es vor allem um therapeutische Arbeit.
A) wollte ich nie Therapeutin werden - dann hätte ich einen Facharzt für Psychiatrie und eine psychotherapeutische Ausbildung gemacht - sondern Gestalt als Baustein in meiner Arbeit als Coach und Dozentin verwenden.
B) habe ich für die Arbeit mit Einzelpersonen und auch mit Gruppen durch meine Ausbildungen als Ärztin und systemische Organisationsberaterin und viele Fortbildungen ein breite Basis gelegt. Locker formuliert: Kenne ich schon. Da sind 6000 Euro und zwölf Wochen Arbeitszeit pro Jahr eine viel zu hohe und vor allem nicht angebrachte Investition. Die sechstausend Euro setzen sich zusammen aus Kurs- und Workshopgebühren, Reisekosten, Lehrtherapie und Büchern.
und C) muss ich leider sagen, dass mir das Niveau für einer therapeutische Ausbildung in der Gestalt-Fortbildung und der Zusammenarbeit mit dem GIF nicht hoch genug ist. Lore und Fritz Perls, die Begründer der Gestalttherapie, haben Anforderungen an Menschen gestellt, die eine Gestaltausbildung machen und als Therapeuten arbeiten wollen Lore - oder wie sie sich dann in den USA nannte - Laura Perls drückt es so aus: "Je breiter der Bildungs- und Erfahrungshorizont der Therapeuten ist, desto effektiver können sie mit verschiedensten Menschen arbeiten. [...] Gestalttherapie [5] wurde für eine professionelle Leserschaft geschrieben. For peers rather than for kids. Gestalt Therapy is not a one-track-thing." (Perls 2005 [6], S. 187 f). Vor allem die Reaktionen aus dem GIF, nachdem ich gesagt hatte, ich mache erst einmal eine Pause, haben mir bewusst gemacht, dass die Fortbildung dort nicht meine Qualitätsansprüche erfüllt.
Hierzu noch eine Anmerkung: Die Lehrtherapeutin oder der Lehrtherapeut sollten meiner Ansicht nach nicht persönlich mit dem Institut verbunden sein, allenfalls ihre Ausbildung dort gemacht haben. Die Gefahr, dass sie eben doch werten, wenn der Klient über die Arbeit der Lehrenden oder des Instituts Negatives berichtet, und dann professionelle Neutralität und Empathie darunter leiden, ist zu hoch - denn das ist menschlich.
Gestalt kennt - erst einmal - keinen Krankheitsbegriff
An Gestalt gefällt mir die Ressourcenorientierung und, dass Gestalt erst einmal keinen Krankheitsbegriff kennt, sondern davon ausgeht, dass Menschen aus guten Gründen bestimmte Fühl- und Verhaltensweisen entwickeln. Zum Beispiel kann es für ein Kind sehr nützlich sein, bei einem aggressiven Elternteil sich eher in sich zurückzuziehen. Wenn der Erwachsene sich auch so mit Vorgesetzten verhält, ist das nicht immer gut für ihn selbst. Das ist übrigens eine klassische Frage im Coaching: Wie war der Umgang mit den Eltern und wie hilfreich ist dieses Verhalten jetzt in der Arbeitswelt?
Wie passt dann das Wort Therapie zu Gestalt? Eine fundierte Therapie brauchen Menschen, die krank sind - körperlich, seelisch, geistig. Alles andere ist Selbsterfahrung, Beratung oder Coaching.
Therapeuten brauchen eine breite Ausbildung
Mir gefällt nicht, wenn Menschen, die therapeutisch mit Menschen arbeiten, nur Gestalt kennen und sich nur im Gestaltumfeld bewegen. Vor allem halte ich es für riskant, wenn sie keine medizinische oder psychologische Ausbildung und damit Basis haben.
Die gesetzlichen Krankenversicherungen übernehmen die Kosten für eine Gestalttherapie nicht:
A) ist nur wenig bekannt, dass Gestalt-Therapie in evidence-based research (wissenschaftlichen Studien mit hohem Niveau) gezeigt hat, dass Gestalt - ausgeübt von qualifizierten Menschen - eine fundierte psychotherapeutische Methode sein kann (vgl. zum Beispiel Hender 2001 [7] und Wagner-Moore 2004 [8]).
B) ist die Tradition in Deutschland, sich einer wissenschaftlichen Diskussion zu stellen, im Bereich Gestalt-Therapie nicht wirklich ausgeprägt. Ich bin sowohl im
GIF als auch auf der Jahreskonferenz der DVG (Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie) im Mai 2016 in Pforzheim mindestens auf wenig Interesse und höchstens auf Unverständnis gestoßen, wenn ich
so etwas ins Gespräch gebracht habe (Blog vom 9.5.2016).
Fazit
Gestalt ist als Baustein in der Arbeit als Therapeut mit solider medizinischer und / oder psychologischer Ausbildung und in der Arbeit als Coach und als Berater ein sehr wertvoller Ansatz.
Nicht mehr und auch nicht weniger.
Ich freue mich sehr über "Mein Jahr als Gestalt". Wie jedoch auch im Blog vom 26.02.2017 geschrieben: Ohne Denken funktioniert das Ganze nicht. Gerade durch Denken, Reflexion und Dialog bekommen Gefühle, Einstellungen und Haltungen eine solide Basis. Ich zitiere noch einmal die Philosophin Christiane Pohl (vgl. Blog vom 26.02.2017):
"Das Ende des 19. Jahrhunderts und auch ein großer Teil des 20. Jahrhunderts war von der Psychologie bestimmt. Denken wir nur an das, was Sigmund Freuds (1856 -
1939) Denken in die Welt gebracht hat. Dadurch ist eine Bewegung zustande gekommen, nämlich die Psychoanalyse und später andere Therapieformen, von denen man erwartet hat, dass sie unsere
Lebensprobleme lösen. [...]
Vergleichen Sie einmal Menschen mit einem Rosenbusch. Früher hatten Menschen Hemmungen, ihre Zweige auszustrecken, denn das Leben war viel begrenzter und die
gesellschaftlichen Vorstellungen waren viel rigider. Heute ist es so, dass die Zweige fast überall hin ausgesteckt werden können, aber wir verkümmern an der Wurzel. Sinn- und
Orientierungslosigkeit sind Probleme im Leben vieler Menschen. Damit aber sind philosophische Fragen berührt."
(Brüning 2012, S. 172 f [2])
Christiane Pohl schildert in diesem Interview auch die Art, wie sie ihre Gespräche führt. Nicht nur mir, sondern auch der Leserin, die bislang noch keine Ärztin getroffen hatte, die als Coach arbeitet, fiel auf: So arbeite ich auch als Coach. Und auch Gestalt verpflichtet sich den Grundsätzen der Empathie, Offenheit und Neutralität. Also haben alle drei - Medizin, Gestalt und Philosophie - eine ganz ähnliche Basis: die wertschätzende Arbeit mit Menschen, die sich uns anvertrauen, sei es als Patienten, Klienten oder Gesprächspartner.
Christa Weßel - Sonntag, 5. März 2017
Quellen