GESTALT_en

Feder
was siehst du?

"Wollen Sie noch einen Doktor machen?" Frage der Buchhändlerin in der Buchhandlung meines Vertrauens: naumann & eisenbletter Buchhandlung und Antiquariat in der Berger Straße 168 in Frankfurt am Main. "Denn das ist ja schwere Kost." Und packte vier der ersten acht Bücher auf den Tresen, die den Grundstock für meine Gestalt-Bibliothek bilden.
"Nein, ich habe eine Gestalt-Ausbildung begonnen."
"Gestalt. Klasse, das kenne ich. Das ist mal eine Richtung, die mir gefällt. Und, müssen Sie auch eine Therapie machen? Ich meine so ..."
"Sie meinen eine Lehrtherapie ähnlich wie in der Analyse."
"Ja, genau."
"Ja, und das finde ich sehr gut. Wir müssen wissen, wie es unseren Klienten geht."
"Und dann. Haben Sie dann Patienten?"
"Nein, ich will es im Coaching verwenden. Vielleicht gehe ich dann noch in Richtung Supervision. Aber es sind noch drei Jahre, bis ich mich entscheiden muss. Wer weiß, was bis dahin alles passiert."
"Oh, Supervision. Das brauchen viele. Vielleicht wir hier auch." Und grinst dabei. "Für die anderen Bücher melden wir uns dann wieder. Wir müssen zwei direkt vom Verlag besorgen und eines antiquarisch."
"Das ist gut. Ich weiß ja: Sie können fast alle Bücher besorgen."


naumann & eisenbletter finden auch Bücher in kanadischen Antiquariaten und sonst wo auf der Welt. Ich bin immer wieder beeindruckt. Die Menschen in dieser Buchhandlung verstehen ihr Handwerk und sind mit großer Freude bei der Sache.

 

Was ist Gestalt?

Ein paar Tage zuvor auf dem ersten Workshop im Odenwald. Ein Mann aus einer anderen Seminargruppe begegnet mir abends auf dem Hotelgelände.

"Ah, du bist aus der Gestalt-Gruppe. Was ist das eigentlich, Gestalt?"

"Frage mich das in drei Jahren noch mal. Vielleicht kann ich es dir dann beantworten. Wir haben gerade erst begonnen."

"Hm."

"Ich kann's ja mal versuchen. In Gestalt geht es um Wahrnehmung. Zum einen neigen wir dazu, unvollständige Formen zu vervollständigen. Wenn du die Abbildung eines Würfels siehst, bei dem nur die Ecken gezeichnet sind, vervollständigst du in deiner Wahrnehmung den Würfel. Wenn du auf einer Zeichnung zwei sich kreuzende Linien siehst, gehst du davon aus, das sie gerade durchgehen, sich also kreuzen - nicht, dass es sich um zwei geknickte Linien handelt, deren Ecken einander berühren."

"Okay."

"Es geht noch weiter. Kennst du die Bilder, auf denen du entweder eine alte oder eine junge Frau siehst, zwei Profile oder eine Vase?"

"ja, die kenne ich."

"Hier geht es darum, was für dich im Vordergrund steht. Das wechselt. Und in der Gestalt - soweit ich sie bisher verstehe - gibt es in unserem Leben einen allgemeinen Hintergrund wie ein Rauschen, aus dem Dinge in den Vordergrund treten und auch wieder zurück. Gestalt arbeitet damit. Beispiel: du hast etwas erlebt, das dich betrübt. Mit der Zeit wird es weniger wichtig. Dann kommt es aus irgendeinem Anlass wieder nach vorne und du beschäftigst dich erneut damit. Und jetzt noch eines drauf: wenn es für dich klar wird, du damit umgehen kannst, es eine vollständige Gestalt wird, dann ist es gut."

"Und das macht ihr dann in der Therapie."

"Ja, auch. Man kann es auch in der Beratung, im Coaching und natürlich in der Supervision anwenden. Wenn du mehr dazu wissen willst, die derzeitigen Einträge auf Wikipedia zu Gestalt, Gestaltpsychologie und Gestalttherapie - vor allem die englischen, aber auch die deutschen - sind eine guter Einstieg."

"Ja, ich glaube da habe ich auch mal nachgelesen. Stimmt."

"Na, dann ..."

"Gute Nacht."

"Gute Nacht."

 

Gestaltpsychologie

Nun sitze ich an meinen Schreibtisch in FFM, sortiere die Bücher, nehme sie in meine Literaturdatenbank auf, werfe die ersten Blicke hinein und gehe noch mal zurück ins Netz, zu Wikipedia.

 

Spannend finde ich die Berliner Schule der Gestaltpsychologie, die sich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts umfassend mit Wahrnehmung beschäftigte. Sie nannten ihre Arbeit auch Gestalttheorie. Daraus hat laut Wikipedia (muss ich noch gegenlesen) Max Wertheimer Gesetze formuliert: das Gesetz der Nähe, der Ähnlichkeit, der Einfachheit (gute Gestalt), der guten Fortsetzung (durchgehende Linie), der Geschlossenheit, des gemeinsamen Schicksals, der gemeinsamen Region, der Gleichzeitigkeit und der verbundenen Elemente.

 

Kurt Koffka soll großen Wert auf die Übersetzung des Aristoteleschen Satzes mit "anders" statt wie meist mit "mehr" gelegt haben: "Das Ganze ist etwas anderes als seine Teile." Menschen formen in ihrer Wahrnehmung ein Ganzes - "Gestalt" - mit selbst organisierenden Tendenzen. Anders ausgedrückt: Erst ist die Gestalt und dann definieren Menschen die Teile, aus denen sie bestehen.

 

Warum will ich als Coach mit Gestalt arbeiten?

Weil mir das Konzept und vor allem die Haltung sehr nahe sind.

 

Gestalt ist ganzheitlich, versteht Menschen als Einheit von Geist, Seele und Körper eingebettet in den Kontext ihrer Umwelt.

 

Es geht um Aufmerksamkeit (awareness), das Verstehen und den Einsatz des Selbst und den vollen Kontakt zum Hier und Jetzt. Gestalt geht davon aus, dass Menschen jeweils ihr Bestes tun, dass Veränderung dann passiert, wenn Menschen im Jetzt sind, dass Menschen, wenn sie sich über etwas klar werden - Bluckert schreibt von "heightened awareness" - neue Wege des Erkennens, der Auswahl und der Aktion finden können.

 

Vor allem liegt mir, dass Gestalt-Berater, -Coaches, -Therapeuten und Supervisoren sich als Begleiter ihrer Klienten sehen. Dass es um Arbeit auf Augenhöhe geht und die vorrangige Haltung die der Authentizität, Transparenz und Demut ist (Yontef 2002, in Bluckert 2010, S. 88: "authenticity, tranparency, and humility").

 

Wie bin ich auf Gestalt gekommen?

Gelesen habe ich seit Jahren immer mal wieder darüber, beispielsweise 2012 Bluckerts Artikel in "The Complete Handbook of Coaching". Schon damals habe ich mir am Rand notiert "Fortbildung!". Ich konnte nicht ahnen, dass eine drei bis vierjährige Ausbildung daraus werden würde.

 

Dann haben ein Coaching-Klient davon erzählt und ein Kollege gemeint "Christa, das passt zu dir."

Seit 2002 coache ich. Zuerst die Studierenden, die eine Abschluss- oder Doktorarbeit in meiner Forschungsgruppe in Aachen gemacht haben. Später kamen andere hinzu. Unternehmer, Führungs- und Fachkräfte, Freiberufler, Wissenschaftler, Berater.

 

Nach all meinen Aus- und Weiterbildungen ist mir in diesem Sommer klar geworden, dass ich den Dingen und den Menschen weiter auf den Grund gehen will, sie immer besser verstehen will. Gestalt setzt dabei daran an, dass Menschen erst einmal sich selbst besser verstehen.

 

Von und mit anderen Kulturen lernen

Nach Edward Hall ("Beyond Culture") lernen Menschen über sich und ihre eigenen Kultur am besten durch andere und andere Kulturen. Erst dann fällt uns das auf, was wir als gegeben hinnehmen. Nach dem, wie ich Gestalt beschreibe: das Rauschen im Hintergrund, aus dem etwas hervortritt.

 

Darum ist es wichtig und gut, dass in dieser Ausbildung am GIF - Gestalt-Institut Frankfurt das Lernen in der Gruppe von achtzehn Lernenden und zwei Leitenden an sechs Terminen pro Jahr stattfindet, die zwischen zwei und zehn Tagen dauern. Hinzu kommen zwei Wahlseminare pro Jahr, die Lehr-Therapie und die Arbeit in Peer-Groups.

 

Habe ich sonst noch etwas vor? Ja, es bleibt genügend Zeit für Coaching und Lehre, zum Schreiben und Publizieren und - last not least - für das Private.

 

Hier erwähnte Literatur und weitere Quellen finden Sie in den Ressourcen zu Psychologie und Philosophie.

 

Christa Weßel - Mittwoch, 9. Dezember 2015

 

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