Wie Veränderung aus dem Vollen schöpfen kann
Heute saß ich im Park mit einer Kollegin und wir überlegten, wie Wertschätzende Erkundung in ihrem Unternehmen zu nachhaltigen Veränderungen führen könnte.
„Es wäre klasse, wenn die Geschäftsführung einmal Berater holen würde, die nicht auf Personalkürzungen sondern auf das Potential der Menschen in unserer Firma schauen.“ - „Dazu müsste eure
Geschäftsführung erst einmal wissen, wie das funktionieren kann. Wer weiß denn in Deutschland von Appreciative Inquiry? Das Handbuch von Cooperrider und Co ist - immer noch nicht? - ins Deutsche
übersetzt. Die deutsche Literatur dazu ist mager. Und es mag auch sein, dass diese Kultur des „das Glas ist voll“ und nicht nur halbvoll - geschweige denn leer - im deutschen Sprachraum eher
ungewohnt ist. Viele sind es gewöhnt, defizitär zu schauen und zu reparieren.“ - „Dann sollten wir Appreciative Inquiry bekannter machen.“ - „In der Überarbeitung von "Basiswissen Consulting"
geht es darum.“
Bis das Buch erscheint, wird noch einige Zeit vergehen, also stelle ich Ihnen hier - aus dem Manuskript - einige Merkmale und Herangehensweisen von Appreciative Inquiry vor. [25.01.2018: Es wurden drei Bücher der vierbändigen Reihe Elche fangen ... Basiswissen Consulting für Berater und Führungskräfte, die im Dezember 2017 im Weidenborn Verlag erschienen sind.]
Appreciative Inquiry
Wertschätzende Erkundung heißt auf Englisch „Appreciative Inquiry“ (AI). Cooperrider, Srivastva, Whitney und andere haben in den 1980er und 1990er Jahren diesen Ansatz entwickelt und seither weiter ausgebaut. Sie findet breite Anwendung in Beratung und Coaching für Teams, Organisationen, transorganisational und auch international für Profit-, Nonprofit und Regierungs- wie Nichtregierungsorganisationen. Das 2005 in zweiter Auflage erschienen und bislang (Juli 2015) nicht ins Deutsche übersetzte Appreciative Inquiry Handbook bietet umfangreiches Material zum Erlernen und Anwenden von AI.
Besonderes Merkmal der wertschätzenden Erkundung ist der positive Ansatz: Berater untersuchen mit dem Klienten, was in seiner Organisation oder bei ihm persönlich besonders gut ist oder läuft und was gut werden könnte. Dabei gehen die Anwender der wertschätzenden Erkundung davon aus, dass sich unsere Aufmerksamkeit auf das richtet, wonach wir fragen. Es macht also einen erheblichen Unterschied, ob Sie fragen: „Wo liegt das Problem? Was fehlt? Was läuft nicht gut?“ Oder ob Sie fragen: „Was ist das Beste, das wir haben? Was können wir sehr gut? Was können wir alles noch schaffen?“
Dieser Ansatz liegt mir, weil er dem salutogenetischen Ansatz von Aaron Antonowski (1858-1929) nahe ist. Die klassische, westliche Medizin schaut auf Defizite und Krankheiten eines Menschen und entwickelt - neben einigen Maßnahmen zur Prävention und Früherkennung - vor allem Therapien. Salutogenese betrachtet und arbeitet mit den Möglichkeiten, die Menschen zur Bewahrung, Wiederherstellung und Förderung ihrer Gesundheit haben, und zwar in körperlicher, geistiger, seelischer und sozialer Hinsicht.
Außerdem bezieht wertschätzende Erkundung den Klienten in den Veränderungsprozess ein und folgt damit dem Ansatz des Action Research [Blog vom 23.07.2015]
5 Principles
Wertschätzende Erkundung stützt sich auf fünf Prinzipien.
4+1 D Cycle
Wertschätzende Erkundung nutzt diese Prinzipien für sein Vorgehen in zumeist vier Schritten. Dabei betrachten die Durchführenden vor allem Abläufe und Prozesse. In ihnen spiegeln sich soziale Strukturen, Beziehungen und Handlungen. Cooperrider und Kollegen beschreiben in ihren Veröffentlichungen, wie sich diese vier Phasen in Organisationen und über Organisationsgrenzen hinweg umsetzen lassen. Sie nennen es den 4D-Cycle. Er startet mit dem Entdecken (discover), geht weiter mit dem Träumen (dream), dem Entwurf (design) und der Einladung zur Aktion - im US-Englischen poetisch destiny (Schicksal, Bestimmung). Diesen vier D voran geht die Aufgabe Define: Um welches Thema soll es gehen? Meine deutschen "e" in der Abbildung versuchen den Sinn in unserer Sprache wiederzugeben.
Stark verkürzt drehen sich die weiteren Fragen um Folgendes:
- Discover: Worin sind wir richtig gut? - Dies beantworten die Teilnehmenden in Interviews und Dialog.
- Dream: Wie werden wir in zehn Jahren damit sein? - Dies finden die Teilnehmenden beispielsweise durch die Entwicklung von Geschichten heraus (Story Telling).
- Design: Wie kriegen wir das hin? – Hierzu entwerfen die Teilnehmenden eine soziale Architektur ihrer Organisation. Dazu zählen interne und externe Akteure (#I Stakeholder), Bausteine – wie Leadership, Kommunikation, Geschäftsmodelle, neue Produkte und vieles mehr – und das Thema, beziehungsweise die Themen, um die es in diesem AI-Prozess gehen soll. Dann treffen die Teilnehmenden Aussagen. Diese sollen provokativ über das bis dahin Erreichte hinausgehen, wie „alle Menschen im Unternehmen haben umfassenden Zugang zum Wissen und Entscheidungsfreiheit“.
- Destiny: Wer macht was? – Die Teilnehmenden verpflichten sich zu Aktionen, indem sich beispielsweise kleine Gruppen finden, die konkrete nächste Schritte verabreden.
It works
Wertschätzende Erkundung kann funktionieren, weil die Zukunftsvisionen auf vorhandenen Stärken und Gegebenheiten in der Organisation aufbauen, der Einbezug aller Akteure innerhalb und außerhalb der Organisation möglich ist und jede Organisation Tempo, Umfang, Thema, Werte und Aktionen unter Anwendung des 4D-Cycle selbst bestimmt. Ausführlicher und besser haben es Cooperrider und Kollegen in ihren zahlreichen Publikationen beschrieben. Die Seite „Appreciative Inquiry Commons“ lohnt einen Besuch zu den Hintergründen und vielfältiger, zum Teil frei zugänglicher Literatur. Das „Appreciative Inquiry Handbook“ in seiner zweiten Auflage von 2005 ist in meinen Augen weiterhin die beste Quelle.
Wertschätzende Erkundung ist nicht das rosarote Träumen. Es ergänzt das Lösen von Herausforderungen und Problemen. Druck und Mangel sind meist noch vor dem Streben
nach etwas Anlass für Veränderungen. Auch wenn das Streben nach etwas der nachhaltigste Motor für Veränderungen ist - wertschätzende Erkundung beruht auf dieser Annahme - so sind Druck und Mangel
in Unternehmen eher im Bewusstsein der Menschen präsent. Dies ist sicher auch eine Frage unserer Kultur: Ist das Glas halbleer oder halbvoll?
Christa Weßel - Dienstag 4. August 2015
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