Eine Begegnung
Neulich saß ich in der Oper neben einer jungen Frau. In den Pausen kamen wir ins Gespräch. Über Studentenkarten. Sie ist schon weiter. Kollegin. Chirurgie.
"Ich möchte aber nicht wirklich in Deutschland bleiben."
Fragender Blick meinerseits.
"Ich will Chirurgin werden. Es kann ruhig dauern, aber es muss voran gehen. Und das sehe ich hier nicht."
"Hm, bei aller Skepsis. Ich halte das deutsche Gesundheitswesen immer noch für eines der besten der Welt."
"Ja. Das stimmt."
"Allerdings sehe ich bei allen Akteuren in mehr oder weniger ausgeprägtem Maß Anspruchshaltung, Überheblichkeit und eine große Verbreitung des Schwarzer-Peter-Spiels. 'Die anderen sind Schuld,
nicht wir.' Mit 'Akteuren' meine ich Ärzte und andere Gesundheitsberufe, Patienten und Angehörige und Vertreter von Krankenversicherungen, Verbänden, Politik, Industrie und anderen, die das
Gesundheitssystem mit am Laufen halten. Wir müssen alle etwas tun, damit dieses System nicht schlechter sondern besser wird. Dazu gehört zum Beispiel, dass Menschen wie Sie bleiben."
Ärztemangel in Deutschland
Kurze Zwischenbemerkung: Wir haben in Deutschland einen erheblichen Ärztemangel, der sich in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren sehr verstärken wird. Derzeit ist es vor allem in der Grundversorgung zu spüren. Allgemeinmediziner auf dem Land sind in einigen Gebieten Mangelware. Verbände und Politik engagieren sich hier stark (Blog vom 27.11.2013).
Arbeitsbedingungen in Deutschland
Zurück zur jungen Kollegin. Sie: "In der Allgemeinmedizin mag das ja sein. In der Chirurgie ist das anders. Dabei will ich einfach nur gute Arbeit machen. Karriere muss gar nicht sein. Ich lerne
Männer kennen, die nicht Mediziner sind - und die verstehen mich nicht. Und die Mediziner verstehen auch nicht, dass ich tatsächlich Chirurgin werden will."
Wieso eigentlich nicht Karriere (Blog vom 16.09.2013)?
Frauen sind genauso gute Chirurginnen und Führungskräfte wie Männer. Chirurgie hat schon lange nichts mehr mit Bodybuilding zu tun. Es geht um Ausdauer und technisches Geschick. Das habe ich im
Gespräch nicht gesagt. Der nächste Akt begann gerade. Wir setzten das Gespräch später fort.
Ich selbst habe 2012/2013 noch einmal ein Jahr als Ärztin in der Chirurgie gearbeitet (Blogs vom 31.12.2013
und vom 26.04.2013).
Die Arbeit mit Patienten ist und bleibt für mich eine der schönstem, die ich kenne. Ein "Aber" ist die extreme körperliche Belastung, der Ärzte in Krankenhäusern ausgesetzt sind. Mein letzter
Dienst in der Chirurgie bestand aus 27 Stunden Arbeit non-stop. Ohne Schlaf und ohne eine andere Pause, die länger als 15 Minuten war. Das ist kein Einzelfall.
Allerdings hatte ich angenommen und gehofft, dass es in den meisten Krankenhäusern anders läuft. Denn: das muss nicht sein.
Das ist jedoch eine Frage des Geldes. Damit sind wir wieder im Thema Gesundheits_system (Blog vom 16.05.2012).
Das deutsche Gesundheitswesen ist seit mehr als dreißig Jahren im Dauerzustand der Reformen ("Reformeritis"). Zunächst mit dem Ziel der Kostenkontrolle. Dann gerieten auch Qualitätssicherung und
Fachkräftemangel ins Blickfeld - vor allem aber und immer wieder: Kosten.
Dienstleistung braucht Personal
Gesundheitsversorgung oder besser Krankenversorgung ist eine Dienstleistung. Dazu brauchen Sie vor allem Personal, aber auch intakte Gebäude und hochwertiges Material.
Die Manager von Krankenhäusern und andere Entscheider im Gesundheitswesen fragen nicht "Wie schütze ich die wichtigste Investition, die ich habe - das Personal?" Sondern sie fragen: "Wie senke
ich meinen höchsten Unkostenfaktor - mein Personal?"
Können Sie meine Ansicht nachvollziehen: diese Entscheider sägen damit an dem Ast, auf dem das Gesundheitswesen sitzt? Ohne Personal keine - gute - Patientenversorgung.
Die Lage wird schlimmer
Diese Lage hat sich in den letzten zehn Jahren weiter verschlimmert.
Die Finanzierung der Krankenhäuser läuft über zwei Schienen (grob beschrieben). Patientenversorgungen: Krankenversicherungen; Investitionen in die Häuser: Träger (Eigentümer) und
Kommunen.
Die Vergütung der Leistungen erfolgt mit Pauschalen, den DRGs (Diagnosis Related Groups). Ich habe schon im Zusammenhang mit meiner Doktorarbeit
1998/1999 geschrieben und gesagt: Pauschalen können nur funktionieren mit Sicht auf Qualität in Struktur ( = Personal und Gebäude und Material), Prozessen (Diagnostik, Therapie, Pflege) und
Ergebnissen (Komplikationsrate und Erfolgsrate kurz- und langfristig).
Die Finanzierung der Krankenhäuser ist in Zeiten klammer Kommunen in vielen Fällen mehr als mager.
Mittlerweile sollen fast fünfzig Prozent der knapp 2000 Krankenhäuser in Deutschland [1]
rote Zahlen schreiben [2].
Diese bedrohliche Situation hat sich in meinen Augen durch den Irrglauben von Entscheidern im Gesundheitswesen entwickelt, Krankenhäuser könnten in einem (pseudo)marktwirtschaftlichen System
mittel- und langfristig finanziell (über)leben und gute bis hervorragende Patientenversorgung und Aus- und Weiterbildung ihres Personals leisten.
Nun, woran werden Häuser als erstes sparen?
Genau, am Personal - es gibt ja eh den Fachkräftemangel. Ohne Kolleginnen und Kollegen aus Osteuropa würden viele Häuser gar nicht laufen. Da lassen sich unbesetzte Stellen scheinbar leicht
begründen.
Wozu führt dies?
Überbelastung und Frust. Und wenn dann noch hinzu kommt, dass Ärzte in ihrer Facharztweiterbildung nicht wirklich voran kommen, buchen sie ein Ticket. Nord- oder westwärts.
Bleibt ... bitte
Die Medien der ärztlichen Berufsverbände sind voll mit Berichten über Initiativen zur Förderung des Nachwuchses. Ich hoffe, dies erstreckt sich in Zukunft auf alle Gebiete, nicht nur auf die
Allgemeinmedizin. Wir haben in allen Bereichen Ärztemangel. Darum sollten wir auf diese jungen Frauen und natürlich auch auf ihre männlichen Kollegen hören.
Und ich hoffe, dass Entscheider im Gesundheitswesen - Politiker, Verbände und Unternehmen - die Finanzierung der Krankenhäuser auf eine gesunde Basis stellen. Dabei könnten sie auch darüber
nachdenken, aus welchem Steuertopf des Bundes und der Länder sie quer finanzieren. Das muss doch gehen. Und ob Pauschalen wie die DRGs total überhaupt Sinn machen. Und wie wir endlich den
Dokumentationstsunami zur leisen Brandung machen können (Blog vom 07.01.2014) - Tsunami als Dauerzustand, auch interessant.
Zurück zum Gespräch mit der Kollegin in der Oper.
Ich erzählte ein wenig von meiner Arbeit im System in der Chirurgie und über das System Wissenschaft und meine Arbeit als Autorin.
Die Kollegin verabschiedete sich mit den Worten: "Ich werde im Blog lesen. Und vielleicht können wir uns ja wiedersehen."
Das würde mich sehr freuen.
Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass sie den Kauf eines Tickets verschiebt.
Christa Weßel - Dienstag, 19.05.2015
Quellen
Blogrubrik Wandel im Gesundheitswesen
< Coaching+Consulting ... Selbstverständnis und der Ausdruck im Netz heute Elch digital >