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"Patient Sozialversicherung"

Wie wir unser Gesundheitssystem ruinieren oder heilen können

Das deutsche Gesundheitssystem ist eines der teuersten und eines der besten weltweit. Wir sind auf einem sehr guten Weg, dafür zu sorgen, dass es nur noch eines der teuersten wird. Hauptursache ist der Bürokratiewahnsinn, der nicht nur Krankenhäuser und Krankenversicherungen erfasst, sondern auch in anderen Teilen der Sozialversicherung groteske Formen annimmt.

 

Das deutsche Sozialversicherungssystem besteht aus fünf Teilen: Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege-, Renten-und Unfallversicherung. Bismarck begann 1883 mit der Einführung. Eine sehr gute Übersicht bietet http://www.deutsche-sozialversicherung.de/.

 

Eine Kritik an diesem System ist, dass die Beiträge die Lohnnebenkosten erhöhen und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands international verringern. Deutschland ist immer noch führend unter den Exportnationen. Kein Land hat einen so hohen Grad des Sozialversicherungsschutzes und ist Beispiel und Anregung für andere Länder, siehe auch Blog vom 22.08.2013 Krankenversicherungen ... Was haben sie mit OECD und WHO zu tun?

 

Zwei Beispiele zeigen, wie wir dabei sind, unser Sozialversicherungssystem und damit auch unser Gesundheitssystem zu strangulieren. Sie kommen aus den Gebieten Rentenversicherung und Dokumentationen im Krankenhaus.

 

Antragsflut in der Rentenversicherung

Der demographische Wandel führt dazu, dass die Deutsche Rentenversicherung (DRV) bestrebt ist, den Anteil der Beitragszahler zu erhöhen. Einige Berufsgruppen können sich von der Beitragspflicht in der DRV befreien lassen, so auch Ärzte. Bis 2012 genügte ein Antrag zu Beginn der Berufstätigkeit. Ärzte zahlen dann in Ärztliche Versorgungswerke. Nun müssen Ärzte bei jeder Änderung ihrer Tätigkeiten, also zum Beispiel, wenn sie eine neue Stelle antreten, einen neuen Antrag stellen. Ein Experte aus einem Ärztlichen Versorgungswerk sagte kürzlich, für diese Verwaltungsakte hätten sowohl sie als auch die DRV neue Mitarbeiter eingestellt.

 

Am 31.12.2012 gab es knapp 350.000 berufstätige Ärzte in Deutschland (Statistik der Bundesärztekammer). Diese Ärzte müssten also zum Beispiel bei einem Stellenwechsel als Beitragszahler von den Ärzteversorgungen hin zur DRV, wenn sie nicht immer wieder Anträge stellen würden.

 

Wenn jede Ärztin oder Arzt pro Jahr im Schnitt 10.000 Euro Beiträge zur Rentenversicherung zahlt, ergeben sich 3,5 Milliarden Euro Beiträge pro Jahr, die die DRV gerne hätte. (Der Beitrag liegt derzeit 18,9 Prozent der Bruttobezüge und kann maximal 2249.10 Euro betragen). Die DRV wird diese Milliarden aber nicht bekommen. Ärzte können Anträge stellen, und irgendwann ist dies auch die Routine der Ärzteversorgungen und der DRV eingezogen - mit Hilfe zusätzlich eingestellter Sachbearbeiter und Abteilungsleiter. Damit verteuern sich letztlich nur die Personalkosten der DRV und der Ärzteversorgungen. Volkswirtschaftlich und betriebswirtschaftlich betrachtet ist die neue Vorschrift aus dem Jahr 2012 zur immer neuen Antragstellung also sinnlos.

 

Dokumentationsflut im Krankenhaus

Deutschland ist das einzige Land, das sich zu einer vollständigen Nutzung der Diagnosis Related Groups (DRG) als Abrechnungssytem im Krankenhaus entschieden hat. Andere Länder wie Australien, Kanada und die Schweiz kombinieren DRG mit anderen Zahlungen. Diese Länder haben von vornherein erkannt, dass DRG nicht ausreichen können, um mit einem angemessenen Verwaltungsaufwand die Leistungen der Krankenhäuser zu honorieren. Krankenhäuser kommen in Deutschland in zunehmende Schieflagen.

 

Eine Gefahr bei Pauschalen, wie die DRG es sind, ist ein Absinken der Qualität der medizinischen und pflegerischen Leistungen. Daher ist es wichtig, Qualitätsmanagement zu betreiben (Weßel 1999). Nur leider verfallen viele Häuser und Institutionen in eine Dokumentationswut, die bis hin zur Doppeldokumentation in Computersystemen und auf Papier führen.

 

Gesteigert wird die Dokumentationsturmflut durch Auseinandersetzungen mit den Krankenversicherungen und ihren Medizinischen Diensten der Kranken- und Pflegeversicherungen (MDK), da dort wiederum Sachbearbeiter und auch Ärzte sich damit beschäftigen, jede Abrechnung eines Falles zu prüfen und nach Abschlägen zu forschen. Im Zweifel - den haben sie häufig - setzen sie sich mit den Sachbearbeitern des Krankenhauses auseinander, wenn es sein muss Seite für Seite einer Krankenakte.

 

Sie ahnen den Aufwand?

 

Papiertsunami in der Kommunikation

Das Sozialversicherungssytem kämpft außerdem mit einem weiteren Punkt, der es aufbläht und damit ineffektiv und ineffizient macht. Es handelt sich um die Unsicherheit von Behörden, Verwaltungen, Krankenhäusern und Versicherungen in der Kommunikation nach außen und der Wahrung von Datenschutz und Datensicherzeit. Im Zweifel wird zum Beispiel nicht eine E-Mail geschrieben, sondern ein Brief, auch für Kurzmitteilungen. Sogar nach Uganda, wenn die Ärztin dort auch lieber eine E-Mail hätte, in der die Versicherung bestätigt, dass sie die Adressänderung erhalten hat. Der Brief dauert - nicht nur nach Uganda.

 

Heilung für den Patienten Sozialversicherung?

Überfettung und Überverwaltung führen letztlich zu Erkrankungen und vorzeitigem Ende eines Lebens und eines Systems, auch von bislang guten Gesundheitssystemen.

 

Betriebs- und volkswirtschaftlich denken

Wir müssen sowohl volkswirtschaftlich als auch betriebswirtschaftlich denken. Die Überblähung von Verwaltungsapparaten auf der Suche nach weiteren Einnahmequellen oder geringeren Zahlungsverpflichtungen ist kontraproduktiv.

 

Balance bei der Dokumentation und Kommunikation

Wir müssen Verwaltungs-, Dokumentations- und Kommunikationsverfahren ausmisten, die wir nicht absolut brauchen.

Wir müssen in Dokumentations- und Kommunikationsverfahren eine Balance finden zwischen totaler Nachlässigkeit und Verfolgungswahn. Beides wird genährt vom Gedanken "big brother is watching you". Dieser Gedanke oder eher dieses Gefühl führt zu Extremen wie "da ist es doch egal" oder "auf keinen Fall elektronisch". Die einen stellen alles ins Netz, die anderen schreiben nur noch Briefe.

 

Jetzt beginnen - jeder bei sich

Vor allem dürfen wir uns nicht entmutigen lassen. Wir müssen vor Ort anfangen, bei uns selbst, in dem Unternehmen, der Behörde, dem Krankenhaus oder der Versicherung, in denen und mit denen wir arbeiten.

 

Chance IT

Die Informations- und Kommunikationstechnologie spielt dabei eine wichtige Rolle. Sie kann ein System zerstören und ein System unterstützen. Wenn wir gute Verwaltungs-, Dokumentations- und Kommunikationsverfahren haben wollen, müssen wir sie gemeinsam entwickeln. "Gemeinsam" bedeutet, dass Verwaltungsmenschen, ITler und Gesundheitsberufe zusammen in konkreten Projekten und in der Routine daran arbeiten. Die Organisationsentwicklung hält einige Instrumente dafür bereit. Wenn Sie in Ihrem Haus etwas machen wollen, empfiehlt es sich, mit kleinen Projekten zu beginnen, zum Beispiel

  • Kommunikationsabläufe per E-Mail mit Versicherten unter Berücksichtigung von Datenschutz, Datensicherheit, Effizienz, Effektivität und Kundenorientierung. Das ist technisch möglich, Stichwort Verschlüsselungsverfahren. Es geht "nur" um das Umdenken der Beteiligten.
  • Dokumentation und Kommunikation im Pflegemanagement eines Krankenhauses mittels eines Wikis im Intranet des Hauses unter Berücksichtigung von Ressourcenschonung, Einfachheit der Handhabung und dem "push- and pull"-Prinzip, in dem die Adressaten Informationen geliefert bekommen und sie jederzeit selbst abrufen können.

Weitere Beispiele stellt der Blog vom 17.11.2013 vor: Was kann Organisationsentwicklung für die Gesundheitsheitsversorgung im ländlichen Raum tun? Nicht viel ohne eHealth ... 

 

Ausblick

In unserem Dialog zum Wandel im Gesundheitssystem (Blog vom 16.05.2012 "The Doctor-Nurse-Game" extended ...) meinte ein Professor: "Frau Weßel, Sie sind so optimistisch in Bezug auf unser Gesundheitssystem." - "Ja, denn sonst müsste ich mich in die Ecke stellen und weinen."

 

Das Potential, unser Gesundheitssystem nicht abrutschen zu lassen, sondern zu verbessern, haben wir.

 

Christa Weßel - Di, 7. Januar 2014

 

Quellen [am 03.01.2018 hinzugefügt]

  • Deutsche Ärztekammer. Die ärztliche Versorgung in Deutschland. Statistiken. - http://www.bundesaerztekammer.de/ueber-uns/aerztestatistik/
  • Deutsche Rentenversicherung Bund. Geschäftsbereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Kommunikation (Hg). Unsere Sozialversicherung. Wissenswertes speziell für junge Leute. 45., überarbeitete Auflage (6/2017). - http://www.deutsche-sozialversicherung.de/
  • Weßel C. Behandlungspfade als Qualitätsmanagement-Instrumente. Dissertationsschrift zur Dr. med. Basel (CH): Universität Basel, 1999. - PDF

 

Blogrubrik Wandel im Gesundheitssystem

 

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